Rodolfo Cázares wurde am 9. Juli 2011 in Mexiko entführt!

(Übersetzung)

18.03.2012

In Mexico wird eine Entführung mit dem Hinweis auf die gestiegene Kriminalität abgetan

MATAMOROS, Mexico – Sie haben ihre gestohlenen Fahrzeuge hier und da wiederentdeckt, gefahren von den gleichen bewaffneten Tätern, die im letzten Juli damit ihre ganze Familie gefangen nahmen. Sie haben die dreiste Entführung an sämtliche mexikanischen Strafverfolgungs-behörden gemeldet, nur um ignoriert oder an andere Stellen verwiesen zu werden.

Eines von drei Häusern der Familie Cázares in Matamoros, Mexiko.

Für die Frauen der Familie Cazares, die mit ihren Familien gegen Lösegeldforderungen entführt wurden – und die immer noch nach fünf vermissten Verwandten suchen – ist die offizielle Stellungnahme der Behörden zu ihrer entsetzlichen Tortur fast noch schlimmer gewesen als das Verbrechen selbst. Sogar noch jetzt, sagen sie, nach monatelangen Versuchen die mexikanischen Behörden zum Handeln zu bewegen, leben die wiedererkannten Verbrecher immer noch als unantastbare Könige hier in der Grenzstadt

.Zynthia Cazares blickt auf Bilder von ihrem Bruder, ihrem Ehemann und ihrem Vater. (von links) 

„Wir sind komplett handlungsunfähig," sagt die 30-jährige Zynthia Casares, eine amerikanische Staatangehörige die unter den Entführten war und deren Ehemann, Bruder und Vater noch immer vermisst werden. „Niemand will uns helfen." Nach sechs Jahren fast ausschließlich militärischer Angriffe auf Drogenkartelle hat sich die Strafverfolgung in weiten Teilen Mexicos weiter verschlechtert und Gerechtigkeit ist kaum noch anzutreffen. Kriminelle in Mexico werden jetzt wahrscheinlich weniger häufig bestraft als noch vor wenigen Jahren, sagen aktuelle und ehemalige Regierungsbeamte, und Experten der maroden mexikanischen Justiz sagen, dass die Behörden durch den Anstieg der Gewaltkriminalität überwältigt wurden, während fortdauernde Korruption, Furcht und Inkompetenz das Justizsystem schwach halten. Viele Landesteile wenden sich nun gegen die Gesetzlosigkeit: in 14 der 31 Bundesstaaten Mexicos war im Jahr 2010 die Aussicht wegen eines Verbrechens angeklagt und verurteilt zu werden weniger als 1% , gemäß Regierungszahlen, die durch das mexikanische Forschungsinstitut CIDAC analysiert wurden. Und seid dem, sagen Experten, sind Reformversuche zum Stillstand gekommen, während Kriminalität und Straflosigkeit zu engen Partnern wurden.

„Kriminalität steigt bei Verminderung der Wahrscheinlichkeit einer Bestrafung, dies führt wiederum zu weiter steigender Kriminalität," sagt Alejandro Hope, ein früherer leitender Geheimdienstmitarbeiter in Mexico. „ Und so geht es weiter."

Besonders Entführungen werden durch diese Dynamik angeheizt. Angezeigte Entführungen sind seid 2005 um mehr als 300% angestiegen – auf einem Niveau mit Mexicos Entführungswelle in den späten 1990ern – teilweise, sagen Experten, weil kriminelle Banden besser organisiert und freier sind, Verbrechen ungestraft zu begehen.

Einige mexikanische Beamte entgegnen, dass die Entführungen die Verzweiflung darstellen, in der sich die kriminellen Gruppen nach Jahren des Kampfes gegen die Regierung befinden. Diese Beamten argumentieren, dass das Trainingsprogramm und die erweiterte Koordination zwischen den Behörden das System gestärkt haben. Aber Forscher sagen, dass Kidnapping, das wiederum Teams von Entführen, sichere Häuser und ein bestimmtes Maß an territorialer Kontrolle erfordert, nur gedeiht wenn der Staat besonders schwach ist. Untersuchungen zeigen, dass Entführungen das Sicherheitsgefühl und die Wirtschaft einer Stadt weit mehr zerstören können als Mord und Totschlag.

Der Fall ’Cazares’ zeigt ein Beispiel: 18 Familienmitglieder wurden am morgen des 9. Julis innerhalb weniger Stunden aus drei Häusern in Matamoros entführt. Ihre Häuser und Büros sind mittlerweile durch Diebe fast leer geplündert, die Fenster und Türen verbarrikadiert.

Ihre schreckliche Katastrophe ist durch Interviews mit einem halben Dutzend Verwandte, durch persönliche Aufzeichnungen und Schriftverkehr mit mexikanischen und amerikanischen Behörden stückweise zusammengesetzt worden.

Sogar bei Weglassung einiger Details und Namen aus Sicherheitsgründen zeigt der Fall ’Cazares’, wie Grenzstädte wie Matamoros – angrenzend an Brownsville, Texas und mit 490.000 Einwohnern – weniger nach Regeln und Gesetzen des Staates als nach denen von Gangs beherrscht werden, die sowohl Kultiviertheit und als auch Rechtsemfinden aufweisen, die aus Verbrechensbegehung in einem rechtlosen Raum, in dem die Aussicht geschnappt zu werden kaum messbar ist, geboren wurden.

Der Fall zeigt auch, wie verschiedene Ebenen der mexikanischen Regierung Lippenbekenntnisse an Verbrechensopfer ausgeben, ohne viel mehr zu tun.

Sogar für Familien mit Wohlstand und Verbindungen – die Cazares’ Ahnenreihe weist Regierungsauftragnehmer und Ingenieure in jahrzehntelangem Regierungsdienst auf – ist die mexikanische Strafverfolgung eigentlich nutzlos.

„Es ist unannehmbar," sagt eine Frau aus der Cazares Familie, die erklärt, warum ihre Familie die Öffentlichkeit gewählt hat. „Das muss enden."

Die Entführung

Es war noch keine 5 Uhr morgens, als Bewaffnete – mindestens acht, viele von ihnen mit jugendlichen, hohen Stimmen – plötzlich erschienen, zuerst im Wohnzimmer und dann in den Schlafzimmern, bekleidet mit Umhängen und schwarzen Masken.

Ihre weißen Turnschuhe legten nahe, dass sie keine Beamte waren, aber sie bewegten sich zielstrebig als ob sie dies schon öfter getan hatten.

Sie treiben alle zusammen, verbanden allen die Augen, außer einem 9-jährigen Jungen und einem Mädchen, das an diesem Tage 11 Jahre wurde. Sie befahlen dem Familienoberhaupt den Tresor zu öffnen, dann stießen sie

jeden – auch Ronaldo Cazares, einen 36-jährigen Dirigenten der aus Deutschland zu Besuch war und dessen Ehefrau Ludivine – in die Fahrzeuge der Familie.

Die Frauen wurden auf die Rücksitze eines Chevy Suburban verfrachtet und mit einem Tuch bedeckt. „Wir konnten es nicht glauben." Sagte Frau Cazares, Rodolfos’ Frau. „ Wir hatten Angst, aber wir waren immer der Hoffnung, dass nichts Schlimmes passieren würde."

Ca. um 7 Uhr morgens erreichten die Entführer das 2. Heim der Familie. „Öffnen sie die Tür," befahlen sie mit Waffen in den Händen, trotzdem sie sich nur einen halben Block entfernt von einem Wachtposten der privat organisierten Nachbarschaftshilfe befanden. „Wir haben ihren Bruder."

Sie kassierten vier weitere Verwandte. Es gab einen kleinen Haken in ihrem Plan – ein Sohn konnte entkommen, rannte zum 3. Haus der Cazares’ einige Häuserblöcke entfernt. Aber in seiner Hast muss er die Eingangstür offen gelassen haben, denn schon Minuten später drangen die Entführer auch dort ein.

Die Umhänge, die sie über ihrer Kleidung trugen, waren weg. Ein langer Mann in Jeans mit einer Alkoholfahne lenkte die Familie von Raum zu Raum, eine Pistole an den Nacken des Führenden haltend, um zu begutachten, was er stehlen wollte.

Die Männer der Cazares Familie – drei Brüder mittleren Alters, einer ihrer Söhne und ein Schwiegersohn – wurden zusammen gehalten. Die Frauen und drei Kinder, zusammen mit der 84-jährigen Großmutter, befanden sich beinahe den gesamten ersten Tag in anderen Fahrzeugen. Ihre Entführer fuhren mit ihnen stundenlang durch die Stadt. Es war offensichtlich, dass sie sich keine Sorgen machten, gefasst zu werden. Sie stoppten um zu tanken (ohne zu bezahlen, wie die Familie erzählte) und in ihren Unterhaltungen über tragbare Funkgeräte sprachen die Männer hauptsächlich über ihre Rivalen, die Zetas, eines unbarmherzigen Verbrechersyndikats. Die Polizei ließ sich selten blicken und keiner mischte sich ein – nicht die Nachbarn, die die Entführung sahen, auch nicht Fremde, die die Cazares Frauen in Pyjamas und barfüßig sahen, während sie auf einer belebten Straße um die Mittagszeit in ein anderes Auto verladen wurden. Irgendwann hörten die Frauen Hubschraubergeräusche über sich. „ Wir hofften, sie kommen wegen uns," sagte eine der Frauen.

Aber dann verblaste das Geräusch.

Lösegeld und Behörden

Die Lösegeldforderungen begannen zwei Tage später mit Anrufen bei einem Bruder der Cazares Familie, der in Texas lebt. „Es ist ein Geld Problem," sagten die Entführer, ein Mantra, das sie wiederholen würden, gemäß Aufzeichnungen eines Verwandten. „Und mit Geld kann man es beheben."

Bei der Polizei abgelegte Dokumente der Cazares’ zeigen, dass die Familie erklärte, einige tausend US-Dollars auftreiben zu können, aber stattdessen erhielten sie ein oder zwei Tage zusätzlich, um die geforderte Summe zu beschaffen. Forderungen nach Lösegeld bedeuten oftmals, dass die Entführten freigelassen werden...die Cazares Familie machten vier Zahlungen, schickten einen vertrauenswürdigen Angestellten zur Übergabe von zusammen 100.000,- USD nach Matamoros, zuerst auf den Parkplatz eines Einkaufsladens und dann hinter ein Schnellrestaurant.

Die Kommunikation mit den Entführern wurde ausschließlich durch die Familie geführt. Mitglieder verbrachten Tage und Nächte am Küchentisch in Texas und warteten auf Anrufe.

Bei drei Gelegenheiten durften die Cazares’ mit einem, dann mit zwei der fünf Männer reden, die immer noch festgehalten werden. Beim ersten Anruf waren die Geiseln am meisten über das Befinden ihrer Frauen und Kindern besorgt. („Wir sind so verliebt," sagte die Ehefrau aus dem dritten Hauses in das die Kidnapper einfielen, Tränen bekämpfend während sie sich erinnerte. „Er war mein erster Freund.")

Der 2. Anruf endete sehr abrupt, als ein Geisel sagte, sie wolle nach Hause. In den letzten Telefonaten am 27. Juli sagten die Kidnapper, sie benötigten nur noch eine weitere Zahlung. Die Familie sandte das Bargeld über die Grenze und wartete auf den weißen Van mit ihren Lieben, den die Entführer nach erfolgter Zahlung des Geldes ankündigten. Er kam nie.

Am Boden zerstört versuchte die Familie die Entführer anzurufen. Die Leitung war an jenem Tag und für immer außer Betrieb.

Einige Wochen später wandten die Cazares’ sich an die Behörden. Zunächst einmal mussten sie ihre Angst überwinden, denn laut einem mexikanischen Kongressbericht aus dem Jahr 2011 waren an mehr als einem Fünftel aller Entführungsfälle in Mexico Polizeibeamte oder Soldaten beteiligt, zudem wurde dort auch erklärt, dass Entführungsstatistiken unterbewertet sind.

Die Cazares’ meldeten das Verbrechen, sagten sie, weil es ihre letzte Hoffnung war. Die Cazares’ Frauen haben seid der ersten Forderung nach einer Untersuchung des Falls nicht nachgegeben. Zusätzlich zu den umfangreichen Aussagen und Angaben an die Lokal-/Staats- und Bundesbehörden haben sie an Mexicos obersten Justizbeamten (Bundesstaatsanwalt), an Menschenrechtbeauftragte und das Außenministerium geschrieben, sowie an den Präsidenten Felipe Calderon. Sie haben sich auch an Präsident Obama und Papst Benedikt XVI gewandt.

Die Antworten waren durch Oberflächlichkeit und kalte Abweisung gekennzeichnet.

Die lokale Polizei hat anfangs Untersuchungen versprochen, dann aber nach einem Monat der Familie formell mitgeteilt, dass der Fall außerhalb ihrer Zuständigkeit liegt. (Die zuständige Abteilung hat nicht auf Email-/und telefonische Anfragen geantwortet; ebenso der Bürgermeister von Matamoros.)

Im September haben staatliche Ermittler mit einer 50-Mann starken Anti-Kidnapping Gruppe in Tamaulipas umfangreiche Aussagen der Familienmitglieder aufgenommen. Aber in einem Interview in diesem Monat sagte einer der Ermittler, dass sein Team keine potentiellen Verdächtigen oder Zeugen befragt hat, noch hätten sie wichtige Tatorte besichtigt.

Der Ermittler Manuel Adolfo Benavides Parra erklärte, seine Agentur erhoffte sich Ende November von zwei inhaftierten und des Drogen-/und Waffenbesitzes angeklagten Männern Informationen zu erhalten – Männer, die von den Cazares’ als Teil der Entführer erkannt wurden. Aber Herr Benavides sagte, dass die Bundesankläger den Bitten um Informationsaustausch nicht Folge geleistet und ihn davon abgehalten hatten, die zwei Häftlinge zu befragen.

Mittlerweile bestand ein Offizieller des mexikanischen Bundesstaatsanwaltsbüros in Tamaulipas darauf, dass die Entführung ein Fall für den Staat wäre. Er weigerte sich, Fragen zu den in Bundeshaft befindlichen Männern zu beantworten. „Wir haben nichts anderes zu sagen," erklärte er.

Die Cazares’ bestanden darauf, dass nun mehr getan werden müsse. Das pfirsich-farbige Haus in dem sie gefangen gehalten wurden und das laut Familienaussagen von den Bundesbehörden in offiziellen Berichten identifiziert wurde, ist ein logischer Startpunkt. Und es ist nicht schwer zu finden. Es befindet sich in einer belebten Arbeitersiedlung, ein Häuserblock entfernt von einer Hauptstraße. In diesem Monat wies eine Stromrechnung, die uns in die Tür geklemmt wurde – ohne Umschlag und deutlich sichtbar – eine Spitze im Betrieb während des Julis auf und das die letzte Zahlung im Januar 2011 getätigt wurde. Ein unmittelbarer Nachbar sagte, er wisse nichts über die Besitzer, obwohl er zugeben muss, dass dort oft spät in der Nacht verdächtige Aktivitäten waren.

Er war einer der vielen Einwohner Matamoros, die sich in ihrer Stadt nicht mehr sicher fühlten. Tatsächlich sind die Cazares nicht nur durch Verlust ihrer Lieben sondern auch durch den Verlust ihrer Heimatstadt traumatisiert. Die Nachbarschaft in der sie aufwuchsen ist nun in alle Winde zerstreut und die Häuser mit ’For-Sale’ Verkaufsschildern belegt. Viele der Cazares Frauen kämpfen gegen Depressionen. Sie sagen, dass einige Leute in den Bundesbehörden nahe dran waren, ihren Schmerz mit Hilfsangeboten und Beruhigungsschreiben zu mindern, aber sogar diese hoffnungsvollen Momente zerstreuten sich.

Im November zum Beispiel brachte ein Freund sie mit dem stellvertretenen Innensenator Felipe Zamora Castro in Kontakt, ein hoher Beamter, der versprach zu helfen. Zwei Tage später wurde Herr Zamora bei einem Hubschrauberabsturz getötet, bei dem auch sein Chef, der Innensenator Francisco Blake Mora ums Leben kam.

Hilfsgesuche in Übersee

Die Cazares sagen nun, dass sie wieder am Anfang sind: kleine Beamte im Innenministerium wurden beauftragt, die Papierlage zu ordnen...das bedeutet: zusätzlicher Zeitverzug.

„Nicht eine einzige mexikanische Behörde will uns helfen," sagt Zynthia Cazares, die Schwester Rudolfos’, an ihrem Schmuck herumfingernd in ihrem Heim in Texas, wo sie jetzt lebt, inmitten von Fotos der Vermissten und Statuen der Jungfrau Maria. „Gott verlangt, dass wir Geduld, Zuversicht und Vertrauen haben."

Die Familie hat auch nach Hilfe in Übersee gesucht. Ludivine Cazares, Rudolfos’ Frau, hat gerade damit begonnen, Unterstützung in Europa zu sammeln, hat an französische und deutsche Behörden geschrieben. Die Cazares versuchen auch die USA einzubeziehen. Die fünf vermissten Männer sind alle Mexikaner, aber wie es in Familien, die an der Grenze leben, üblich ist, sind viele ihrer Verwandten amerikanische Staatsbürger oder legale Einwohner und die Bandenmitglieder scheinen sich vor amerikanischen Behörden zu fürchten: der 9-jährige Junge entführt aus dem ersten Haus, wurde sofort an der Grenze freigelassen, teilten die Entführer den Frauen mit, weil er in den USA von einer Amerikanerin geboren wurde, die das F.B.I. benachrichtigt hatte.

Amerikanische Beamte, die den Cazares Fall nicht kannten, sagten, sie seien auch außerordentlich frustriert über Mexicos Mangel am Fortschritt der Rechtsreform, fügten aber hinzu, dass sie wenig dazu beitragen können, um die Probleme mit den Gesetzen, der Kultur und der Bürokratie zu beheben.

Die Cazares wollen dennoch mehr. Sie fragen sich, warum es scheint, dass die amerikanische Hilfe im Kampf gegen die Drogenkartelle immer noch getrennt ist von den Opfern. Warum scheint der Fortschritt – wenn er überhaupt vorhanden ist – so langsam voran zu gehen. „Das amerikanische Geld erreicht nie die Menschen, die es wirklich benötigen," sagt Zynthia Cazares, behauptend, dass ihre Verwandten immer noch gerettet werden könnten. „Wir brauchen Hilfe. Jetzt."

Übersetzung:

Christian Schaffer, Schiffdorf-Spaden, den 22.-23. April 2012